Textbüro Eissing
Mechthild Eissing
Bei Schiller sollen die Menschen zu Brüdern werden. Und zwar alle. Aber nur dort, wo die Freude, immerhin weiblichen Geschlechts und Tochter, als Götterfunken zugegen ist. Strophauf und strophab: Alles nur Brüder. Die aber immerhin jubeln sollen, sofern sie ein holdes Weib errungen. Und natürlich: Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen. Wer auch sonst. Die Muttergottheiten waren ja längst vertrieben. Die Muttergottes ist bei Schiller auf gar keinen Fall gemeint. Selbst wenn sie seinerzeit selbstverständlich noch überm Sternenzelt wohnte. Ja: Die Sterne lagen ihr sogar zu Füßen. Aber nein. Die Menschen sollen Brüder werden. Alle. Und der Vater ist lieb.
Keine Frage, hier ist das Patriarchat Vater des Gedankens. Schillers Muttersprache hätte ihm aber ganz andere Möglichkeiten bereitgehalten. Allerdings: Die Geschwister hätten das Versmaß heftig ins Wanken gebracht. „Alle Menschen werden Geschwister“ – nein, zu viel der Silben. „Alle Menschen werden Schwestern“ hingegen würde dem Versmaß gerecht, ist möglicherweise auch ein schöner Gedanke. Doch ebenfalls weit entfernt von aller Gendergerechtigkeit. Und wahrscheinlich nicht einmal das wirkliche Ziel: Weder wollen wir alle Brüder sein, noch alle Schwestern. Am ehesten streben wir doch tatsächlich eine geschwisterliche Einigkeit an. Darin ließe sich ja sogar jedwede geschlechtliche Vielfalt (oder am Ende auch die Einfalt, die sich unisex nennt) abbilden. Bloß: Diese Geschwister sind sprachlich nichts weiter als die uralte Mehrzahl der Schwestern. Alle Menschen, so die Erkenntnis der Muttersprache, sind in Wirklichkeit nichts als Schwestern. Schiller hätte das wissen müssen. Die Brüder hingegen sind geschlechtlich ziemlich festgelegt: Alles nur Männer. Wie viel integrative Kraft das Wort „Brüder“ noch zu Schillers Zeiten gehabt haben mag – und wie viele Frauen und Schwestern, auch Weiber genannt, sich mit den Brüdern zur Menschheit unterm Sternenzelt vereint wussten, wer kann das wissen? Mithilfe der Sprache lassen sich Strukturen nachweisen, Wahrnehmungen und Bedeutungsmuster kaum bis schwer.
Tatsache aber ist: Unter den Geschwistern weilen sprachlich seit langer Zeit immer auch die Brüder. Unter den Gebrüdern weilen, sprachlich, niemals die Schwestern.
Und bei der Gelegenheit: Der Duden macht darauf aufmerksam, dass die „Gebrüder Grimm“ so nur selten richtig benannt sind. Wer ausschließlich von Jacob und Wilhelm Grimm reden möchte, muss nämlich korrekterweise von den Brüdern Grimm sprechen. Die Gebrüder Grimm bezeichnen die Gesamtheit aller Brüder aus der Familie Grimm. Das waren insgesamt fünf. So die Auskunft des Dudens. Tatsächlich aber waren es insgesamt sogar sieben Brüder, von denen aber zwei früh starben. Der Hinweis auf die einzige Schwester findet sich unter dem Stichwort „Gebrüder“ natürlich im Duden nicht. Sie tut ja gerade nichts zur Sache. Oder Sprache. Aber es gibt sie. Charlotte Amalie Grimm, genannt Lotte. Summa summarum also acht Geschwister Grimm.
https://www.duden.de/rechtschreibung/Gebrueder
https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Wilhelm_Grimm#Ehe
Merkwürdiger Zufall, oder: „Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr er sichs auch wünschte; endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde, und wie‘s zur Welt kam, war es auch ein Mädchen“. So beginnt das Märchen von den sieben Raben, die beim Auftrag, das Taufwasser zu holen, in Streit geraten, den Krug im Brunnen verlieren, nicht heimkehren, vom Vater laut zu Raben verflucht werden – und tatsächlich zu Raben werden. Ziemlich weit muss das Mädchen laufen, um die Gebrüder vom väterlichen Fluch zu erlösen.
So weit das Märchen. Man kann es, wenn man möchte, als Spiegel der Wirklichkeit lesen. Denn als der Geschwister Mutter starb, war Lotte 15 Jahre alt – und plötzlich Haushaltsvorstand. Die Gebrüder waren aber, wenn man Wikipedia folgen will, nur schwer an einem Tisch zu bringen. Es dauerte lange, bis Lotte den Zusammenhalt der Familie wiederhergestellt hatte. Der aber war so fest, dass Jacob und Wilhelm erst an ihre eigene Heirat dachten, als sie, Lotte, das jüngste lebende Geschwisterkind, heiratete und die Familie verließ.
https://de.wikipedia.org/wiki/Charlotte_Grimm
Und die Moral von der Geschicht: Alle Brüder brauchen Schwestern. Erst recht unterm Sternenzelt. Wie sollten sie sonst dem lieben Vater, der dort wohnt, nach dem Verbleib der Mutter fragen. Sprachlich jedenfalls ist sie ja noch da. Deutlich mehr, als gegenwärtig angenommen.
02.04.2023
© Mechthild Eissing