Muttermord


An einem Abend im Advent geht Karl in der Fußgängerzone auf und ab. Er schaut geschäftig und eilig, so als ob er auf der Suche sei. Aber er ist keiner von ihnen, er sucht keine Geschenke. Hin und wieder fängt er den Anblick seines Gesichtes auf, wenn es in einen Spiegel gefallen ist, wenn eine Schaufensterscheibe seine Gesichtszüge zusammen mit dem Adventsschmuck und den Waren hinter der Scheibe wieder herauswirft. Die Fensterscheiben weisen sein Gesicht zurück.

 

Dann, wenn ihm sein Gesicht als Spiegelbild vor die Augen gehalten wird, beginnt er mit seiner Arbeit. Er vergleicht sein Gesicht mit den Gesichtern der anderen. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, sein Gesicht ist so normal, wie die Gesichter der anderen. Geschäftig, angespannt, gereizt, abgelenkt. Er zählt die Gesichter auf, ein Mann von 50 Jahren, ein Mann um die 30, ein Jugendlicher, eine Frau. Keine Frau. Eine alte Frau. Fast schon eine tote Frau. Tote Frauen können ihm nichts tun. Karl zählt weiter, er sammelt die Gesichter in einem großen Sack, den er mitgebracht hat. Die Gesichter aber, die Wärme und Freude ausstrahlen, meidet er. Meist sind das sowieso nur die Gesichter der Kinder.

 

Die Gesichter der Frauen bleiben ihm an den Händen kleben. Meist sind es ja lebende Frauen, die in der Stadt unterwegs sind. Ihre Gesichter sammeln sich in dem einen großen Gesicht, das er niemals mehr anschauen wird. Ihre Gesichter gehören in den Sack an seiner Seite, doch sie bleiben an seinen Händen kleben. Sobald sein Blick auf das Antlitz einer Frau fällt, neigt er den Kopf zu Boden. Sie darf ihn nicht sehen. Die eine, in der sich alle vereinen. Die eine, die ihn strafen wird. Die eine, die sich rächen wird. Er schaut auf den Bürgersteig, er senkt den Kopf. Er fühlt nichts. Es ist ein Reflex. Doch das eine Gesicht bleibt bei ihm. Es ist in ihm. Aber es schreit nicht und es schlägt nicht. Es ist still. Er schaut es nicht an.

 

Seine Erinnerung ist ein Film in Zeitlupe. Karl kann nicht steuern, wann und wo dieser Film beginnt. Der Film ist in seinem Kopf. Ganz automatisch beginnt er zu laufen, wenn er das Gesicht der großen Frau, der gesammelten Frauen auch nur ahnt. Doch auch in der Erinnerung sieht er ihr Gesicht nicht. Nicht das eine und nicht das ganze. Karl sieht nur ihre Augen. Seine Erinnerung ist schmerzlos. Ihre Augen stechen. Er sieht, wie sie seine Brust durchbohrt. Sie braucht nichts mehr als ihren Hass und ihre stechenden Augen. Er ist drei, er ist sieben, er ist 14 Jahre alt. Jetzt ist er 33.

 

Abrupt dreht Karl sich um. „Passen Sie doch auf, Mensch“, ruft es ihm hinterher. Es ist ihre Stimme. Es ist die Stimme aller Frauen. Es ist die Stimme, die in ihm keine Schmerzen und keine Erinnerung mehr hervorruft. Nur ein Echo, Echo, Echo. Und manchmal auch den Film. „Karl!“ Sein Name hallt durchs Treppenhaus, sein Name schrillt über den Hinterhof, sein Name stürzt auf dem Schulhof auf ihn ein, sein Name kullert auch unter das Bett, sein Name stottert und gluckert. Es ist das Wasser, das aus ihrem Mund kommt. Film ab. Es ist das Wasser, das in ihren Mund läuft. Er hat seinen Namen aus ihrem Munde in Badewasser ertränkt. „Karl!“. Er erinnert sich an das Glucksen und Gurgeln, in dem die Buchstaben ‚r’ und ‚l’ zum Spucken und Schlucken wurden. Er erinnert sich an den Duft süßer Blüten. Vielleicht Jasmin? Veilchen? Lavendel?

 

Abrupt dreht Karl sich noch einmal um. Diese Straße muss er verlassen. Niemand schreit ihn an, er war den Schaufenstern, den Spiegeln, den Gesichtern, den Frauen, den Lauten und den Lichtern aus dem Weg gegangen. Karl ist verlaufen und gefangen in einer dunklen Seitengasse. Die eine Frau, die ihn strafen wird, kann nicht mehr schreien. Er hält ihren Kopf unter Wasser, er sieht ihre nackten Brüste, er spürt ihre Kraft. Die Kraft, die sich aufrichtet gegen seinen Willen. Die Kraft, die ihn gefesselt hat, gegen seinen Willen. Sie zappelt. Karl fühlt, wie sie zappelt, und dieses Gefühl füllt ihn mit neuem Leben. Während seine Mutter sich aufbäumt gegen den Tod, wird Karl lebendig. Er fühlt den Schmerz auf seiner Haut, wenn sie ihn mit ihren langen Fingernägeln kratzt. Er fühlt die Peitschenhiebe, wenn sie mit ihren langen Armen ausholt. Er fühlt das Zerren an der Kopfhaut, den Schmerz auf und unter der Schädeldecke, wenn sie ihm büschelweise Haare ausreißt. Karl wird lebendig und atmet. Er atmet den Schmerz und die Vergangenheit. Er schreit: „Lass mich los!“

 

In der Stille des Abends in dieser Seitengasse bleibt Karl stehen. Er ist allein. Zuhause ist nur die Badewanne, in der seine Mutter liegt. Jetzt ist sie tot. Er hat für sie geschrien. Sie konnte nicht mehr schreien, als sie starb. Sie hat die letzten Buchstaben seines Namens verschluckt. Jetzt heißt er nur noch Ka. Das Gurgeln und Röcheln, das Rollen und Rattern, der tonlose Hass, der in seinen letzten beiden Buchstaben gefangen war, sind mit ihr zur Hölle gefahren. Er hat sie ertränkt.

 

Karl geht zurück auf den großen Platz der Stadt. Dort, wo sie die Kirche hingestellt haben. Dort ist das Licht. Es leuchtet in diesen Tagen vor dem Heiligen Abend ganz besonders hell. Es ist das Licht, das ihm etwas verspricht. Seine Seele wird leicht werden, so leicht wie das Licht. Doch erst noch muss Ka etwas erledigen. Er muss dem Schmerz gegenübertreten, den sie ihm zugefügt hat. Er muss ihn wieder fühlen können, so wie er ihn gefühlt hat, als er ein kleiner Junge, war, der seine Mutter liebte. Er muss ihn wieder fühlen, so wie er ihn gefühlt hat, als er seinen Vater gesehen hat, der von der Straßenbahn verschluckt wurde. Sein Vater war in die Straßenbahn eingestiegen, als er fünf war. Und Karl hatte gewusst, dass die Straßenbahn ihn verschlucken würde. Der Vater ist nicht wiedergekommen.

 

„Vater!“ Er spricht dieses Wort auf dem großen, hellen Platz mit der Kirche und dem leichten Licht aus. Es ist das erste Mal, seit seine Mutter begonnen hat, ihn wie ein verachtetes Tier zu quälen, dass er das Wort Vater ausspricht. Es hört sich an, als ob ein anderer es sagte. Mutter, – nein dieses Wort will er nicht sagen. Er guckt sich um, er duckt sich, er zieht seine Pistole aus dem Sack mit den vielen Gesichtern. Es reicht, sie zu fühlen. Er wird auf ihr Gesicht zielen, wenn es kommt. Das große Gesicht, das ihn strafen wird.

 

Ka atmet. Er lebt, er hat nur den Gurgellaut in seinem Namen verloren. Aber er hat jetzt und hier den Schmerz wiedergewonnen und die Erinnerung an seinen Vater. Und an die Straßenbahn. Ka entsichert die Waffe. Wenn seine Mutter kommt, um ihm den Vater zu nehmen, er wird sie töten. Mit der Pistole wird er sie töten. Es ist die Pistole seines Vaters. Er hat immer gewusst, wo sie ist. Mit der Pistole wollte er sie töten. Mit des Vaters Pistole. Vielleicht wollte schon der Vater sie töten, bevor die Straßenbahn ihn verschluckt hat.

 

Ka lebt. Die Waffe ist entsichert. Ka hat keine Angst. Ka fühlt den Schmerz – und es ist so schön, überhaupt etwas zu fühlen. Überwältigt von Schmerz und Erinnerung taumelt er über den hell erleuchteten Platz mit der Pistole in der Hand und es ist, als ob er tanzt. Er tanzt den Totentanz für seine Mutter. Das ‚r’ und das ‚l’ rollen über seine Lippen und suchen in seiner Nase und seinen Auge nach Tränen für die Tote. Die Tränen werden ihm zum Gurgeln. Er liegt in der Badewanne, sie liegt in der Badewanne, er taumelt und tanzt und sie ist tot.

 

Dann fasst ihn einer an. Nein, da ist kein Gefühl. Niemand hat ihn angefasst. Er sieht in die Gesichter der Leute auf dem Platz. Sie stehen um ihn herum und schauen ihn an. Es sind die Gesichter der Frauen, er wird ihnen nicht ausweichen. Er sieht ihre Angst. Er kennt ihre Angst, er fühlt ihre Angst. Ihre Angst ist tief in seinem Innern. Er nimmt die Pistole. Mit zwanzig Schüssen beendet er ihre Angst. Er befreit sie von allem Schmerz, von aller Erinnerung. Sie werden ihn nicht strafen. Er spürt den Schmerz aus den Händen seiner Mutter und er sieht das Blut, das über den Platz läuft zu Ehren seiner Mutter. Sie müssen den Schmerz nicht mehr fühlen. Er hat ihn auf sich genommen.

 

Ka richtet die Pistole auf sein Herz. Nach dem Schuss kommt nur noch ein aus seinem Mund. Es hört sich an wie ‚rrrrrl’.

 

© Mechthild Eissing

Vatermord

 

Woche für Woche besucht sie ihren Vater. Seine Zeiten sind montags nachmittags um drei, denn zu dieser Zeit beginnt ihr freier Nachmittag, und samstags morgens. An den Samstagen bringt sie Brötchen mit und sie frühstücken zu zweit. Er hat dann bereits Kaffee gekocht und die Erdbeermarmelade zusammen mit der Margarine auf den Tisch gestellt. Viel mehr Lebensmittel beherbergt sein Kühlschrank nicht. Das Mittagessen wird ihm jeden Tag in einer Alu-Schale gebracht und an den Abenden tunkt er sich seinen Zwieback in den Tee. So wie er sich früher immer seinen Zwieback in den Tee getunkt hat, wenn er nach längerer Krankheit zum ersten Mal etwas zu sich nahm.

 

Woche für Woche besucht sie ihren Vater. An den Montagen und an den Samstagen. Er redet nicht mehr, obwohl er es noch könnte. Er hat die Zeit angehalten, sie läuft auch ohne ihn. Am Tag, als die Mutter starb, hat er alle Uhren abgestellt und die Zeit angehalten. Nur noch zur Beerdigung ist er gegangen, danach hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Auch nicht für einen Arztbesuch.

 

Woche für Woche erzählt sie ihm aus dem Leben, das er abgestellt hat. Sie erzählt von den Nachbarn, aus den Nachrichten, von ihrem Mann. Nur von ihren Kindern erzählt sie ihm nichts. Es ist, als könnte er sie mit dem Hauch des Todes besudeln. Ihr Vater kultiviert den Tod ihrer Mutter. Sie hat ihm seine Enkelkinder nicht mehr gebracht, seit die Mutter beerdigt ist. Die Kinder sollen den Atem des Todes nicht spüren.

 

Sie hasst ihren Vater, der der toten Mutter huldigt, wie er sie im Leben nicht angebetet hätte. Nie hat er an den Hochzeitstag gedacht, selten ist er mit Blumen aufgekreuzt, kaum ist ihm ein Lob über die Lippen gekommen. Wenigstens nicht im Beisein der Kinder. Nein, sie hasst ihren Vater, wie sie ihn immer gehasst hat, weil er ihre Mutter wie einen Schatten behandelt hat, wie seinen Schatten. Nun ärgert sie sich über seine Weigerung, am Leben noch teilzunehmen. Er hat die tote Mutter in Besitz genommen und wieder zu seinem Schatten erklärt, so wie sie seine stille Gefährtin gewesen ist, als er am Leben noch teilgenommen hat. Selbstherrlich ist er in seiner Trauer wie in seiner Liebe, aber das sagt sie ihm nicht. Abweisend ist er in seiner Trauer, aber das sagt sie ihm nicht. Besitzergreifend ist er in seiner Trauer, aber das sagt sie ihm nicht.

 

Heute ist Samstag. Sie besucht ihn mit Brötchen zum Frühstück. Während er den Tisch abräumt, übernimmt sie stillschweigend und unaufwendig die Herrschaft im Haus: Jedes Bild ihrer Mutter dreht sie so, dass man ihr Gesicht wieder sehen kann. Sie kann seine Empörung riechen, als er für einen Moment versucht, sie daran zu hindern. Doch sie ist schneller als er, sie ist wendiger. Ihr Vater geht auf die 80 zu. Er hat seit drei Jahren nicht mehr gesprochen, er  humpelt und ist es gewohnt, versorgt zu werden.

 

„Wenn man den Toten ein zweites Mal ihr Leben nehmen kann, dann hast du es getan“, sagt sie in einem Tonfall, als ob sie beim Metzger 100 Gramm Aufschnitt bestellt. Dann macht sie sich an den Uhren zu schaffen, ohne ihren Vater auch nur anzusehen, sie zieht die Rollläden in den verstaubten Räumen hoch, die ihr Vater seit drei Jahren nicht mehr betreten hat. Sie macht das Radio an und öffnet das Fenster zum Garten. Ihr Vater humpelt ihr von Stuhl zu Stuhl, von Sessel zu Sessel, von Tür zu Tür hinterher. Er versucht, sie beim Namen zu nennen, doch sind es nur Vokale, die er krächzt, als sei er ein Rabe. „Aaaa“, für Anna.

 

Anna legt am Ende ihrer Reise durch das Haus ihrer Kindheit eine Video-Cassette ein. Vielleicht ist es erstaunlich, dass sie auf Anhieb die richtige Cassette findet. Aber Anna erstaunt es nicht. Das Video liegt dort, wo es immer lag. Das Video liegt in dem Schrank, der zu einem Reliquienschrein für ihre Mutter geworden ist. Urlaubsbilder, Urlaubsfilme, Urlaubserinnerungen hat sie dort gesammelt. Italien 1966, Mutter und Anna. Und Anna ist vier Jahre alt. Das Video ihrer Kindheit. Nach dem Urlaub war Annas Kindheit zu Ende gewesen. Nach dem Urlaub war Annas Mutter nur noch ein Schatten an seiner Seite gewesen. Nach dem Urlaub war die Liebe der Eltern zu Ende gewesen. Doch das hatte Anna erst auf dem Sterbebett der Mutter erfahren. Oft, immer sonntags, wenn der Vater auf den Fußballplatz gegangen ist, haben sie sich gemeinsam das Video angesehen. Und Anna hatte immer geglaubt, die Mutter lache mit ihr über die Tolpatschigkeiten einer Vierjährigen. Erst auf dem Sterbebett der Mutter hat Anna verstanden, dass hinter dem Lachen die Tränen verborgen geblieben sind. Erst auf dem Sterbebett hat Anna gesehen, dass der Mutter die Liebe ihres Mannes im Italienurlaub 1966 verloren gegangen ist. Viele Begründungen hat die Mutter dafür im Sterben noch liefern können. Aber keine stichhaltige.

 

Anna sieht die weit aufgerissenen Augen ihres Vaters. Mit ihren eigenen Augen hält sie ihn auf Abstand. Sie weiß jetzt, dass sie die Pistole nicht brauchen wird, die wahrscheinlich immer noch in seiner Nachttischschublade liegt. Es reichen ihre Augen, um ihm zu drohen. Mit diesen Augen fesselt sie ihn an seinem Platz. Dann greift sie ihm unter den Ellbogen, um ihn in seinen Fernsehsessel zu setzen.

 

Es ist, als ob ihr Vater wüsste, mit welchem Video sie ihn töten wird. Es ist, als ob er ihre Tat verstanden hätte, längst bevor sie sie auch nur begonnen hat. Anna kann wieder ruhig atmen. Sie weiß, dass er längst eingewilligt hat und nun wird sie ihn opfern auf dem Altar, den er der Toten errichtet hat. Sie braucht nichts zu sagen, sie holt ihre Tasche, den Paketkleber, die Schere und wickelt ihren Vater ein wie eine Mumie. Mumie im Fernsehsessel. Nur den Mund lässt sie frei und die Augen. Er redet ja sowieso kein Wort mehr.

 

„Du hast sie nicht nur getötet, nachdem sie schon tot war, du hast sie langsam getötet, als sie noch gelebt hat, du hast sie uns weggenommen, du hast uns die Kindheit genommen, die Erinnerungen und die Vergangenheit.“

 

Anna schaltet das Video ein. Sie braucht sich nicht zu vergewissern, dass es das richtige Band ist. Es ist das richtige Band. Dann schließt sie das Fenster zum Garten, dreht das Radio ab, lässt die Rollläden zur Straßenseite wieder herunter und verlässt das Haus. Ohne noch ein Wort zu sagen.

 

© Mechthild Eissing

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