Textbüro Eissing
Mechthild Eissing
Totenlied mit
Dompfaff
Er hatte sich nicht mehr sehen lassen seit meiner Kindheit.
Der Ort, an dem er sich in meiner Kindheit hat sehen lassen, sieht längst nicht mehr aus wie in meiner Kindheit.
Nicht nur der Sandkasten ist verschwunden.
Das Haus ist verschwunden.
Die Wiesen sind verschwunden.
Die Tannen sind verschwunden.
Die Gärten sind kleiner geworden.
Die Häuser sind größer geworden.
Der Dompfaff ist umgezogen.
Ich seh’ ihn noch an der Futterstelle. Doch den Apfel fraß die Amsel.
Ich seh’ ihn noch im Käfig.
Der Käfig hing im Hauseingang und darin war unser Dompfaff. Den Löffel, der in der Dose mit Vogelfutter steckte, habe ich heute noch. Und wenn ich den Löffel, der in der Dose mit Vogelfutter steckte, in den Händen halte, kann ich das Körnerfutter riechen, das nicht mehr in der Dose ist, die nicht mehr neben dem Käfig steht, in dem der Dompfaff nicht mehr zuhause ist.
Der Dompfaff ist umgezogen vor langer Zeit. Das Dorf war ihm zu unwirtlich geworden.
Nun sind wohl 50 Jahre vergangen und ich habe meine Mutter begraben.
Im Traum ist er zurückgekehrt. Mein Dompfaff. Aufgeplustert und vollgefressen. Rund und schäbig.
Ein Arbeitstier. Vielleicht war er schäbig von der Arbeit.
Er hatte ein Loch für die Urne meiner Mutter gegraben, neben dem Sandkasten, der nicht mehr ist, neben dem Elternhaus, das nicht mehr ist. Dort, wo das Haus meiner Schwester ist, die nicht mehr ist. Dort, wo die Schwägerin übrig geblieben ist aus einer Zeit, in der sie nicht da war, wo das Haus nicht mehr ist. Die Schwägerin, sie hatte meine Mutter verbrennen wollen nach ihrem Tod.
Der Dompfaff, der meine Kindheit verlassen hat, steht mir zur Seite, dort, wo meine Kindheit nicht mehr ist. Nicht nur er hat diesen Ort verlassen. Auch meine Mutter hatte diesen Ort verlassen. Nun hat sie diese Welt verlassen.
Wir haben sie begraben. Nicht verbrannt.
Aber der Dompfaff. Er hat gelesen, was mir auf der Seele brannte.
Er hat sich verausgabt, sein Gefieder ist voller Sand.
Er ist größer geworden, sein Gefieder ist voller Sand.
Das Loch für die Urne ist tief und schwarz.
Der Dompfaff ist zurückgekehrt. Aber ich weiß nicht, zu wem.
© Mechthild Eissing